Frau Dr. Antonia Napp hat im Herbst 2015 die Leitung des TheaterFigurenMuseums Lübeck übernommen. Sie studierte Kunstgeschichte und Slawistik in Freiburg und Wien. Antonia Napp promovierte 2004 in Freiburg zur russischen Malerei des 19. Jahrhunderts und arbeitete anschließend für die Lübecker Museen, die Hamburger Kunsthalle und das Staatliche Museum Schwerin.
TheaterFigurenMuseum: Liebe Antonia, als ich Dich fragte, ob wir ein Interview machen wollen, weil das Museum schon seit 3 Jahre geschlossen ist, warst Du richtig überrascht, dass es schon 3 Jahre sind! Die Zeit ist unglaublich verflogen. Was ist in diesen drei Jahren im Kolk passiert?
Antonia Napp: Da ist tatsächlich sehr viel passiert, auch wenn man das von außen gar nicht sieht. Wir sind als erstes mit all unseren Sachen ausgezogen. Das war schon ein ziemlich aufregend! Anschließend mussten wir die Gebäude innen vollständig entkleiden, die Vitrinen, die Verschalungen, alles, was eingebaut und verbaut war, musste entfernt werden. Der nächste Schritt war die Grundlagenerforschung der Gebäude. Um an die mittelalterliche Substanz der Gebäude zu gelangen, brauchten wir tatsächlich sehr viel Zeit! Ging es im ersten Jahr relativ zügig, Aufgabe war die Entfernung dessen, was sowieso weggeschmissen werden sollte, so verbrachten wir das gesamte letzten Jahr mit der Bauforschung und mit der Archäologie. Wir haben vorsichtig Schichten abgetragen und gemeinsam mit der Archäologie im Untergrund und in den Kellern die Bestände aufgenommen. Es war „ein-in-die-Tiefe-gehen“, um genaue Erkenntnis zu gewinnen!
Das passierte im Kolk und parallel dazu erfolgte die Planung von Architektenseite zusammen mit uns Nutzern.
Da ist tatsächlich sehr viel passiert, auch wenn man das von außen gar nicht sieht.
TFM: Wie geht es jetzt weiter?
Antonia Napp: Wir sind jetzt so weit, dass wir alles freigelegt haben. Nun erfolgt der Abbruch des Gebäudes, indem wir zuvor unsere Büros hatten. Das Gebäude von 1937, gebaut aus Schutt und wiederverwendeten Materialien, mit sehr schlechter Substanz wird sehr vorsichtig Stein für Stein abgetragen. Vorsichtig, weil es an andere mittelalterliche Gebäude angrenzt!
Nach dem Abbruch geht es los mit unserer ersten großen, fast wichtigsten Aufgabe: den Baugruben und Fundamenten. Wenn wir die geschafft haben, dann geht es wieder in die Höhe und dann haben wir das Schwierigste tatsächlich geschafft!
TFM: Das klingt unglaublich komplex und das ist auch noch „gewürzt“ worden durch weitere Aufgaben, die uns die Corona-Pandemie aufzwingt. Hygiene-Konzepte sind plötzlich ein großes Thema. Ebenso müssen Raumklima und Entlüftung in Ausstellungen berücksichtigt werden. Welche Überlegungen für die Altstadthäuser müssen neu angestellt werden?
Antonia Napp: Wir haben tatsächlich im letzten Jahr mit ganz anderen Augen auf die bisherige Dimensionierung unserer Belüftungsanlagen für den Theatersaal und für das große Forum geschaut als vorher. Vorher hatten wir das so ausgelegt, dass man diese Räume abwechselnd belüften kann. Auch die Frage, kann man Fenster manuell öffnen, um schnell Durchzug herzustellen, wurde gestellt. Wir haben jetzt einen anderen Fokus darauf.
Planung mit der „Corona-Brille“
Wir haben uns ebenfalls gefragt, ob es möglich ist, Rundgänge durch unsere Räume mit festen Ein- und Ausgängen so zu planen, so dass sich die Leute nicht begegnen. Das erforderte einen neuen Blick auf unsere Grundrisse. Dabei haben wir festgestellt, dass wir für einige Teile der Gebäude gute Lösungen finden können, während es andere Gebäudeteile gibt, in denen das leider nicht ganz gelingt. Wir haben gemerkt, dass wir in der Planung jetzt die „Corona-Brille“ aufhaben.
TFM: Die Dimension der Ausstellungsfläche wird etwas kleiner als früher sein. Die Sammlung der Theaterfiguren ist unglaublich vielfältig. Wie wird diese Vielfalt künftig gezeigt werden?
Antonia Napp: Dieses Missverhältnis zwischen unserem physischen Platz in diesen Altstadthäusern und der beachtlichen Größe unserer Sammlung begleitet uns seit der Gründung des Museums. Das ist Fakt und wir können das Problem nur lösen, indem wir den vorhandenen Platz anders nutzen. Das heißt, wir werden künftig thematische Ausstellungen machen, werden uns auf bestimmte Fragestellungen konzentrieren und werden den Mut zur Lücke haben!
Es wird mehr Abwechslung geben!
Man wird nicht jedes Mal, wenn man in das Museum geht, aus jeder Figurentheatertradition, die wir haben, alles sehen können. Wir werden da reduzieren. Dafür wollen wir aber stärker wechseln und wir wollen die Ausstellung insgesamt lebendiger gestalten! Es wird mehr Abwechslung geben!
TFM: Der Umbau des Museums bietet die große Chance, dass zukünftig auch Menschen mit Gehbehinderungen sowohl unser Museum als auch das Figurentheater besuchen können. Doch der Begriff barrierefrei bedeutet noch viel mehr. Welche Ziele werden noch verfolgt?
Antonia Napp: Barrierefreiheit darf man nicht mit Rollstuhlgerechtigkeit gleichsetzen. Und auch, wenn wir Kompromisse machen müssen, freuen wir uns, dass es in den Gebäuden künftig einen Fahrstuhl und größere WCs geben wird. Gewiss einen kleinen Umweg müssen Menschen mit Gehbehinderungen in Kauf nehmen. Das ist der mittelalterlichen, denkmalgeschützten Bausubstanz unserer Häuser geschuldet. Wir sind in den Altstadthäusern durch die Macht des Faktischen eingeschränkt.
Ich möchte das Konzept der Barrierefreiheit aber auch auf anderen Ebenen stärker verfolgen. Da geht es zum Beispiel um die Vermittlung von Inhalten in „einfacher Sprache“. Oder die Herausforderung, dass wir für Menschen mit Sehbehinderung unsere Ausstellung ebenfalls erlebbar machen wollen.
TFM: Das ist ein spannender Blick in die Zukunft. Ich schwenke jetzt in die Gegenwart und blicke in Richtung Depot, wo unsere Objekte aufbewahrt werden. Welche Arbeiten müssen jetzt im Depot erfolgen?
Auch im Depot geht es fleißig weiter
Antonia Napp: Wirklich alle Objekte mussten ins Depot umziehen. Dort haben wir eine Grundordnung geschaffen und kümmern uns jetzt um die Inventarisierung. Die Inventarisierung ist die Erfassung aller Objekte und aller Informationen, die wir zu den Objekten haben. Die Informationen werden in eine Datenbank eingegeben und werden dann wissenschaftlich bearbeitet.
Bei der enormen Größe unserer Sammlung müssen wir clustern. Wir haben bereits jetzt bestimmt, was in der ersten Ausstellung im dann fertiggestellten Museum zu sehen sein soll. Auf diese Objekte konzentrieren wir uns zuerst mit der Erfassung, mit der wissenschaftlichen Bearbeitung, der Provenienzforschung. So erfassen wir in Clustern unsere Sammlung. Wenn wir das einmal für die erste Ausstellung abgeschlossen haben, dann definieren wir die nächsten Cluster.
TFM: Jetzt während der Corona-Pandemie ist es fast ein Glücksfall, dass wir zurzeit sowieso wegen Umbaus geschlossen haben und das TheaterFigurenMuseum trotz geschlossener Türen mit seinem Blog digital präsent ist. Wie wird die digitale Präsenz aussehen, wenn das Museum wieder öffnet und die Corona-Pandemie hoffentlich überwunden ist?
Antonia Napp: Wenn wir wieder eröffnen, dann werden wir tatsächlich als die neue Institution KOLK 17, Figurentheater & Museum eröffnen! Eine Institution, die sich ganz dem Figurentheater widmet, sowohl in der aktuellen, gespielten Variante als auch in der gezeigten, ausgestellten sowie historischen Dimension. Und dafür wird es eine neue Website geben.
In unserem jetzigen Blog zeigen wir bereits diese beiden Formen: das Ausstellen, das Erforschen aber auch das Spielen. Das werden wir auch weiter so in unsere Webpräsenz integrieren.
Wir werden schöne Formate entwickeln
Natürlich wird Digitalisierung oder Digitalität eine stärkere Rolle spielen in der Ausstellung und eventuell auch in der Theaterarbeit. Für die Ausstellung kann ich ganz klar sagen, dass viele Informationen in ein digitales Format ausgelagert werden. Das heißt, nicht alles, was wir über ein Objekt wissen, wird auf kleine Tafeln geschrieben im Ausstellungsraum hängen, sondern wir werden schöne Formate entwickeln, eine App. Ich stelle mir das so vor, als ob die Institution einen digitalen Zwilling im Netz hat, wo jede Besucherin, jeder Besucher dann nach Lust und Laune in die Tiefe steigen kann.
Es gibt es schon viele innovative Systeme. Die Nutzerin und der Nutzer entscheiden sich, möchten sie einen Gegenstand in der Ausstellung nur ästhetisch anschauen oder möchten sie sich tief in das Wissen um diese Figurentheatertradition hineinbegeben und dazu Interviews anschauen oder historische Fotos betrachten. Das wird durch die App möglich.
TFM: Ein weiterer Glücksfall ist, dass TheaterFigurenMuseum und Figurentheater der Possehl-Stiftung, die 2019 ihr hundertjähriges Bestehen gefeiert hat, gehören. Wie werden die Stiftungsziele durch uns als Museum erfüllt?
Antonia Napp: Wir erfüllen die Zwecke auf verschiedenen Ebenen. Als erstes wir sind eine gemeinnützige Institution und dienen dem Gemeinwohl. Die Possehl-Stiftung bezweckt die Förderung von gemeinnützigen Einrichtungen. Der zweite Zweck ist, dass Kunst und Kultur gefördert werden sollen. In diese Sparte fallen wir inhaltlich ebenfalls hinein.
Dadurch, dass unsere mittelalterlichen, historischen Gebäude im Kolk denkmalgerecht saniert werden, wird das Stadtbild aufgewertet. Somit erfüllen wir einen weiteren, wichtigen Zweck der Possehl Stiftung: das schöne Bild der Stadt! Das sind die offensichtlichsten Zwecke, die wir für diese Stiftung erfüllen.
Wir wollen ganz viele Menschen ansprechen
Ich persönlich denke immer, dass wir auch den einen oder anderen Zweck darüber hinaus erfüllen! Da wir zu 100 Prozent zur Possehl-Stiftung gehören, haben wir die Förderung der Jugend sowie die Not der Bedürftigen im Sinn. Ein Museum und ein Theater sind Bildungsinstitutionen, Bildungsorte. Das ist etwas, was mir sehr am Herzen liegt und was ich mit unserer Institution in Zukunft noch stärker verfolgen möchte. Gerade über Bildungsformate wie die Theater- und Museumspädagogik.
Kern unserer Identität ist stets die Niedrigschwelligkeit. Wir sind keine elitäre Institution, sondern wir wollen ganz viele Menschen ansprechen und besonders diejenigen, die sich sonst gar nicht in einem „Theater-Tempel oder einen Musen-Tempel“ hineintrauen. Das ist mir sehr wichtig, dass wir diesen Baustein unserer Identität nicht verlieren, sondern dass wir diese Zugänglichkeit auf jeden Fall behalten! Ich denke, das ist tatsächlich im Sinne der Possehl-Stiftung.
Antonia Napp: „Kunst und Kultur sind etwas Urmenschliches“
TFM: Eine Statistik besagt, dass in Deutschland während der Saison 2017/ 2018 insgesamt 21,4 Millionen Zuschauer in Fußballstadien die Spiele der ersten, zweiten und dritten Liga gesehen haben. In Theatern hingegen wurden im vergleichbaren Zeitraum 34 Millionen Zuschauer und in Museen 114 Millionen Besucher gezählt. Kunst und Kultur erreichten weit mehr Menschen als der Fußballsport. Dennoch gelten Kunst und Kultur nicht als systemrelevant. Wie denkst Du darüber?
Antonia Napp: Über diese Frage habe ich lange nachgedacht. Es ist so, dass Kunst und Kultur tatsächlich etwas wohl Urmenschliches sind. Man muss gerechterweise sagen, dass Fußball, ein Spiel nach bestimmten Regeln, ebenfalls eine Kulturtechnik ist und als solche dazu gehört! Ich denke, dass das tatsächlich etwas für Menschen Wesentliches ist und ihnen eigen. Die Frage nach der Systemrelevanz ist nicht ganz so einfach, denn wie es immer so schön heißt, erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Erst kommt das ganz Basale. Wir müssen alle Essen, wir alle müssen zum Arzt gehen können. Dann erst kommt die höhere Sphäre.
Aber das ist eigentlich nicht das „Mensch sein“!
Ich finde es natürlich auch traurig und möchte gerne das Theater wieder öffnen und Besucherinnen und Besucher im Museum haben. Das ist ganz klar! Sobald es die Coronaentwicklung wieder erlauben sollte, könnte man in den Theatern und den Museen, wo die Besucherströme gut gesteuert werden können, vorsichtig die Kulturbetriebe wieder öffnen. Ich finde diese Frage nach der Systemrelevanz tatsächlich sehr schwierig, denn wenn es um das pure Überleben geht, dann brauchen wir wirklich nicht mehr als Essen und Trinken und die Gesundheitsversorgung. Aber das ist eigentlich nicht das „Mensch sein“!
TFM: Gibt es etwas, worum Du als Mensch eine Theaterfigur beneidest?
Antonia Napp: Ich beneide Theaterfiguren nicht wirklich. Viele Dinge, die die Figuren können, sind gewiss toll. Theaterfiguren können viel mehr als wir Menschen, sie können fliegen oder sie können das Unmögliche im Theaterstück vollbringen. Das ist etwas Schönes, aber es ist eine Illusion! Und eine Sache zeichnet alle Theaterfiguren aus: sie brauchen eine Spielerin, einen Spieler, die ihnen Atem einhauchen, die sie verlebendigen. Die Autonomie, die ich als Mensch habe, dass ich die Lebendigkeit aus mir selbst schöpfe, diese Lebendigkeit, dieses Freie, natürlich auch die Verantwortung für mein Handeln, das alles würde ich nicht abgeben wollen! Wenn die Theaterfigur ausgespielt hat, dann kann sie in ihrer Kiste liegen und hat ihre Ruhe. Das scheint vielleicht abends, am Ende eines langen Tages verlockend. Aber, nein, ich würde nicht mit einer Theaterfigur tauschen wollen!
Ganz herzlichen Dank für das Interview!
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